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Komplementäres versus elitäres Führungshandeln

Eine umfassende Führungskräfte-Kompetenz differenziert das Handeln von Führungskräften nach der Fach-, Management- und Sozialkompetenz und als Schnittmenge dieser drei Kompetenzfelder die Persönlichkeitskompetenz. Effizientes und effektives Handeln in einer Führungsposition verlangen ein ausgewogenes Verhältnis in allen dieser Kompetenzfelder. 

Vielfach wird der berufliche Aufstieg, insbesondere in Linien-Organisationen, determiniert durch eine hohe Fachkompetenz unter Vernachlässigung der anderen Kompetenzbereiche. In Unternehmen, die über eine ausgereifte Personalpolitik und Personaldiagnostik verfügen, wird im Laufe der Karrierewege das gesamte Kompetenzspektrum bei Entscheidungen über Stellenbesetzung im Führungskader beachtet.

Alle Kompetenzfelder sind im Zusammenspiel dann bedeutsam, wenn ein hoher organisationaler Reifegrad vorliegt. Existiert z.B. eine projekt- oder prozessbezogene Aufbau- und Ablauforganisation, werden voraussichtlich alle Kompetenzfelder von Führungskräften verlangt. Der berufliche Aufstieg ist in diesen Organisationen über mehrere Karrierewege (z.B. Fach-, Führungs- oder Projektlaufbahn) möglich und verlangt dementsprechend eine Variabilität in den Führungskompetenzen. 

Von Führungskräften in agilen Organisationen wird besonders verlangt, dass sie über eine hohe Persönlichkeitskompetenz verfügen und schnell und flexibel innerhalb ihres Kompetenzspektrums im Dialog mit ihrer Umwelt agieren. Feedback-Prozesse über ihr Handeln sind obligatorisch, ebenso wie das Revidieren von individuellen Meinungen im Rahmen von Diskussionen und Reflexionen mit ihrem Umfeld. Solche Führungskräfte misstrauen dem Vertrauten und sind offen für individuelle und organisationale Lernprozesse.

Unter diesen Perspektiven gewinnt der Gedanke einer sich ergänzenden, komplementären Führung unter Einbezug der zuvor erwähnten Kompetenzfelder an Bedeutung.
 

Effektive und effiziente Führung stehen im kontinuierlichen Wechselspiel zwischen den Führungsanforderungen und den Führungserwartungen der Führungskraft und seinem sozialen Umfeld (Mitarbeiter, Kollegen, Führungskraft, Kunden, Lieferanten etc.). In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, nicht konkurrierend, sondern integrierend zu agieren. Durch die Handhabung einer komplementären Sichtweise können sich Führungskräfte diesem Sachverhalt erfolgreich stellen und sich zu einer sozial  anerkannten und akzeptierten Führungspersönlichkeit entwickeln. (vgl. STREICH, 2016, S.121ff.).
 

Die Anwendung einer solchen Komplementär-Führung stellt Führungskräfte vor spezifische, neue Herausforderungen. Die Perspektive eines komplementären Führungshandelns wird geprägt durch den Grundgedanken des „sowohl als auch“ anstelle des „entweder – oder“. Dieses Miteinander nimmt verschiedene Perspektiven des Denkens und Handelns auf. Jeder der beiden Akteure vergrößert sein individuelles Handlungsspektrum in Komplementarität im Abgleich zu seinem „Mitstreiter“. Werden Mitarbeiter von ihrer Führungskraft als Partner auf Augenhöhe wahrgenommen und akzeptiert, bietet sich das komplementäre Führen an.

Die Komplementär-Perspektive ist in Abbildung 1 dargestellt. Der untere Kreis veranschaulicht das Potenzial systemischer Erweiterungen, indem der Akteur (die Führungskraft) das ihm zugrundeliegende Umfeld in einer komplementären Sicht zu seinen eigenen (defizitären) Fähigkeiten und Fertigkeiten gestaltet. Im Gegensatz hierzu zeigt der obere Kreis, dass eine Führungskraft, die kein komplementäres Miteinander fördert, der Gefahr unterliegt, ihr Umfeld ausschließlich innerhalb ihres Fähigkeiten- und Fertigkeiten-Kreises zu definieren. Während die in Abbildung 1 oben gezeigte Rosette degeneriert, „blüht“ die unten dargestellte auf. Die jeweiligen Akteure (Führungskraft und Mitarbeiter) vergrößern ihren individuellen Handlungsspielraum in Komplementarität zu ihrem „Mitstreiter“. Das Team verfügt zudem über mehr Handlungsoptionen und gewinnt an Bedeutung für den unternehmerischen Erfolg.
 

Das Konzept verlangt eher Vertrauen in die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Mitarbeiter als eine zu engmaschige Kontrolle (vgl. MICHALIK, 2020). Eine solche „Vertrauensorganisation“ verfügt in der Regel über mehr Informationen als eine „Misstrauensorganisation“, um anstehende Entscheidungen zu treffen und verbessert damit auch die Qualität der Entscheidungen. LOHMANN formuliert sinngemäß in diesem Zusammenhang: Wer misstraut, verringert die Bandbreite an Informationen, auf die er sich zu stützen getraut. Er wird von weniger Informationen stärker abhängig. Zu viel Kontrolle vergrößert dabei die Innensicht, reduziert den Widerspruch bzw. den Widerstand und vergibt somit eine Chance vorwärts orientierter Produktivität (vgl. u.a. RICHTER, 2017; BEIMS, 2017).
 

Es kann festgehalten werden, dass die Führungskraft, die den Erfolgsfaktor Komplementär-Führung anwenden will, wissen muss, was sie im Hinblick auf eine effiziente und effektive Erledigung ihrer Führungsaufgabe und das Erreichen ihrer Führungsziele nicht kann (Qualifikation), nicht will (Motivation), nicht darf (Sozialisation) und nicht vollzieht (Realisation). Erst diese Perspektiven eröffnen ihm den individuellen Komplementaritäts-Spielraum. Dort, wo persönliche Defizite auf diesen vier Ebenen im Sinne einer individuellen Defizit-Analyse erkannt werden, können gezielt Komplementär-Partner, sprich Mitarbeiter, gesucht und eingesetzt werden. 

Die obigen Fragestellungen (vgl. Abbildung 2) haben darüber hinaus generellen Charakter, da sie auch bei der Suche nach Komplementarität für ein Team bzw. die Organisation zielführend sind. Die Antworten definieren den Komplementär-Rahmen für die Vernetzungen von individuellen (bzw. Team- oder organisatorischen) Kernkompetenzen. Eine solche Defizit-Analyse stellt somit den Motor für die Anwendung des Komplementär-Gedankens dar.

Im Führungsprozess sollten sich Mitarbeiter und Führungskräfte z.B. die Frage stellen, inwieweit sie sich mit ihren individuellen „Defiziten“ komplementär zueinander verhalten können, um damit sowohl sich selbst als auch ihr Gegenüber besser zu motivieren und zu positionieren.

Die Mitarbeiterperspektive im Führungsgeschehen ist in der Führungsliteratur und -forschung bislang eher vernachlässigt worden. Erfolgreiche Führungsarbeit basiert jedoch auf beidseitig wertschätzender und dialogorientierter Beziehung zwischen Geführten und Führenden. Führungsstärke ist demzufolge nicht ein Merkmal einer Führungsperson, sondern der gelebte Ausdruck einer Beziehung (vgl. EIDENSCHINK, 2013, S. 19ff.).

Eine solche Blickrichtung verlangt allerdings nicht nur von der Führungskraft, sondern auch vom Mitarbeiter das aktive Engagement und die Übernahme neuer Perspektiven und Einstellungen (vgl. SCHÖNEBORN/DIEKMANN, 2013, S. 24ff.). Hierdurch wird der Mitarbeiter nicht zum „geführten“, sondern zum gleichwertigen Komplementär-Partner. Komplementär-Führung wird, so verstanden, zu einem gemeinsamen Erfolgsfaktor.

Welchen mentalen bzw. aktionalen Wandel Mitarbeiter dabei vollziehen könnten, veranschaulicht Tabelle 1.
 

Soll die Komplementär-Partnerschaft zwischen Mitarbeiter und seiner Führungskraft forciert werden, bieten sich z.B. die Beantwortung der in Tabelle 2 aufgeführten wechselseitigen Fragestellungen aus der jeweiligen Rolle heraus an.
 

Persönlichkeiten, die sich ihrer Defizite bewusst sind, haben mehr Chancen, ihren Wirkungsgrad durch Anwendung der komplementären Arbeitsweise entscheidend zu vergrößern. Gerade eine solche persönliche Defizit-Perspektive wird jedoch vielfach von Top-Führungskräften nicht aktiv ins Kalkül gezogen, da dies vordergründig nicht dem „Idealbild“ eines erfolgreichen Managers entspricht. Insbesondere den Führungskräften mit dem beschriebenen Kompetenzmakeln einer Inkompetenz bzw. einer Kompetenzillusion bleiben positive Effekte verborgen.
 

Selbstkritik und die Arbeit an der eigenen Betriebsblindheit sind von ausschlaggebender Bedeutung. Es gilt das Motto: „Auch im Selbstgespräch ist die Qualität des Gesprächspartners entscheidend.“ Die Arbeit an sich selbst bildet den Ausgangspunkt eines komplementären Miteinanders zwischen Führungskraft und Mitarbeiter. Die Defizit-Sichtweise wurde bereits von Sokrates vertreten, indem er ausführte: „Der Klügste ist der, der weiß, was er nicht weiß“.
 

Komplementäres Handeln auf der Individualebene verlangt somit im ersten Schritt im Grunde eine „Persönlichkeitsanalyse“. In einem zweiten Schritt ist diese individuelle Perspektive auszuweiten, um dann im persönlichen Umfeld nach möglichen Partnern mit komplementären Fähigkeiten zu suchen.
 

Die beschriebene „duale“ Komplementarität ist vorzufinden im Dialog von Person zu Person. Dies kann beispielsweise – wie ausgeführt – möglich sein in Konstellationen zwischen der Führungskraft und ihren Mitarbeitern, aber auch zwischen Kollegen oder ihrer Führungskraft, sowie zwischen Führungskraft und Kunde oder Lieferant. 
 

Komplementäre Aktionen könnten in der dualen Komplementarität zwischen Führungskraft und Mitarbeiter darauf abzielen, dass die Führungskraft im Rahmen der Mitarbeiterauswahl Personen bevorzugt, die Fähigkeiten und Fertigkeiten besitzen, die sie ihrerseits nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung hat. In diesem Fall wäre nicht die Gleichheit das Einstellungsprinzip („Schmidt stellt Schmidtchen ein“), sondern die Andersartigkeit. Eine solche Vorgehensweise verlangt vorab – wie erwähnt – eine individuelle Persönlichkeitsreflexion im Sinne der erwähnten Defizitanalyse. Werden Mitarbeiter um die Führungskraft gruppiert, die jeweils die individuellen Schwächen des jeweils anderen ausgleichen, so vergrößert sich, wie in der aufgeblühten Rosette (vgl. Abbildung 1) aufgeführt, der Handlungsspielraum des Gesamtsystems. 
 

Im direkten Mitarbeiter-Führungskraftdialog werden für die Führungskraft weitere Komplementär-Spielräume relevant. Sie delegiert bspw. Aufgaben (plus Kompetenzen und Verantwortung), die sie nicht so gut erledigen kann. Sie tritt nicht mit direktiven Anweisungen in das Aktionsfeld des Mitarbeiters und fördert damit die Handlungskompetenz und Persönlichkeitsentwicklung „vor Ort“ sowie die intrinsische Motivation des Mitarbeiters. Vertrauen und Zutrauen bestimmen somit ihr Handeln. Ihr Führungserfolg wird abhängig von der Koordination individueller Kenntnisse, Fähigkeiten und Motive (vgl. u.a. LOHMANN, 2012; JOTZO, 2012, S. 49). Ein solches Vorgehen reduziert eine latente oder sogar manifeste Konkurrenz zwischen Führungskraft und Mitarbeitern, da der Mitarbeiter bspw. nicht im originären Kompetenzfeld der Führungskraft agiert und vice versa.
 

Führungskräfte entfalten ihren höchsten Wirkungsgrad, wenn sie – unter Berücksichtigung ihrer fachlichen, motivationalen bzw. sozialen Kompetenzdefizite – komplementäre Mitarbeiter finden, die diese Mängel ausgleichen. Für alle Beteiligten können so Wachstumsprozesse entstehen, um schwierige Situationen zu meistern und den persönlichen Reifegrad zu steigern. Komplementarität unterstützt somit den Aufbau und Ausbau von Agilität in Unternehmen.
 

Betrachten wir einige einschränkende Bedingungen für den optimalen Einsatz des komplementären Verhaltens im Führungsalltag, so sind vornehmlich folgende zu nennen:
 

  • zu standardisierte Arbeitsabläufe
  • zu geringe bzw. extrem unterschiedliche Qualifikationsniveaus bei der Führungskraft bzw. den Mitarbeitern
  • fehlende umfassende Gesamtverantwortung oder/und Entscheidungsfreiheit der Führungskraft
  • zu geringe Motivation bei der Führungskraft bzw. den Mitarbeitern
  • zu oft wechselnde Personenkonstellationen auf Mitarbeiter- oder Führungskraftseite
  • Detailbesessenheit des Top-Managements, sodass jede Führungskraft aufgrund der Rückfragen von „Oben“, immer über alles informiert sein muss und somit zum „Obersachbearbeiter“ für das Management degradiert wird
  • eine Kompetenzillusion bei der Führungskraft, alles besser machen zu können
  • Angst vor Machtverlust bei Weitergabe von Informationen, Methoden etc.
  • Inkompetenz bei der Führungskraft im Erkennen von Komplementär-Aktionen
  • Mikromanagement aus der Führungsrolle heraus 
  • ausschließlich fachbezogene Bildungs- und Beförderungsstrukturen mit Vernachlässigung der Management-, Sozial- und Persönlichkeits-Kompetenzen
  • zu geringe „Streitkultur“ bzw. zu hohe „Konsenskultur“ im Unternehmen

 

Ein zentraler Erfolgsfaktor in der Ausübung des Komplementär-Prinzips ist der Reifegrad der Führungskraft im Umgang mit ihren Defiziten, Widersprüchen und Unterschieden innerhalb ihrer Person und in ihrer Funktion im Dialog mit ihren Mitarbeitern und dem sozialen Umfeld. 


Literatur

BEIMS, M.: Warum Vertrauen so wichtig ist, in: computerwoche.de, 6.3.2017.

EIDENSCHINK, K.: Mythos Führungsstärke, in: Wirtschaft+Weiterbildung, Nr. 3, 2013, S. 18-23.

JOTZO, M.: Loslassen für Führungskräfte – Meine Mitarbeiter schaffen das, Weinheim, 2012.

LOHMANN, D.: Und mittags geh ich heim, 2012.

MICHALIK, G.: Co-Creation – Die Kraft des gemeinsamen Denkens, 2020.

RICHTER, C.: Vertrauen innerhalb von Organisationen, 2017.

SCHÖNBORN, P./DIEKMANN, S.: Schicksalsfrage Vorgesetzter, in: Wirtschaft+Weiterbildung, Nr. 3, 2013, S. 24-27.

STREICH, R.K: Fit for Leadership, 2. Auflage, 2016.

Autor: Prof. Dr. Richard Streich | golfmanager 2/2024

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