Pflanzen sind sesshaft – oder etwa nicht?
Teil 2: Fremdverbreitung – Allochorie
Im ersten Teil des Beitrags „Pflanzen sind sesshaft – oder etwa nicht?“ behandelte unsere Autorin Dr. Isolde Hagemann neben einem allgemeinen Einstieg die Ausbreitungsstrategien bei Gehölzen, insbesondere die „Selbstverbreitung – Autochorie (Fallvorrichtungen, oftmals mit Speicherverbreitung durch Nagetiere)“. In dieser und in der nächsten Ausgabe soll es um die „Fremdverbreitung – Allochorie“ gehen.
Verbreitung durch Wind – Anemochorie
Bei Laub- und Nadelbäumen, die mit ihrer Krone weit in den Luftraum ragen, ist der Wind ein wichtiges Medium zur Verbreitung ihrer Früchte und Samen. Diese tragen Flügel oder Haare und können dadurch vom Wind sehr weit weg von der Mutterpflanze transportiert werden.
Bei den Flugeinrichtungen unterscheiden wir solche mit einem Flügel an der Frucht, am Samen oder an einem Fruchtstand. Dabei kann die Gestalt der Flügel äußerst vielgestaltig sein.
In diesem Beitrag werden vorgestellt:
- Schraubenflieger: Ahorn, Eschen-Ahorn, Kiefer
- Schraubendrehflieger: Esche, Tulpenbaum, Götterbaum
Früchte und Samen mit Flügeln – Schraubenflieger
Ahorn-Arten (Acer spec.), Familie der Ahorngewächse (Aceraceae), Berg-Ahorn (Acer pseudoplatanus L.) und Spitz-Ahorn (Acer platanoides L.), bilden große Kronen und ragen ca. 20 – 30 Meter hoch in den Luftraum (Abbildung 1), hingegen gehört der Feld-Ahorn (Acer campestre L.) in die Gruppe der kleinen bis mittelhohen Bäume, mit einer Höhe ca. 15 bis 20 Metern.
Bei allen drei einheimischen Ahornarten entwickeln sich aus den Blüten die charakteristischen Früchte. Die Entwicklung der Früchte ist gut zu beobachten, wenn aus den Blüten die ganz jungen Früchte heranwachsen (Abbildung 2). Sie stehen zu zweit an einem Stiel, tragen jeweils einen propellerartigen Flügel und zerfallen bei Reife in zwei Teilfrüchte. Beim Feld-Ahorn (A. campestre L.) mit Blüten in doldenrispigen Blütenständen stehen die Flügel waagerecht (Abbildung 3), beim Berg-Ahorn (A. pseudoplatanus L.) stehen die Blüten an einer längeren Achse in herabhängenden Trauben (Abbildung 4), die beiden Flügel zeigen nach unten (Abbildung 5), beim Spitz-Ahorn (A. platanoides L.) stehen die Blüten in Doldenrispen (Abbildung 6) und die Flügel der Früchte zeigen nach unten (Abbildung 7).
Bei der Reife trennen sich die beiden Früchte und werden in einer rotierenden schraubenartigen Flugbahn vom Wind verbreitet. Durch den Flügel wird die Sinkgeschwindigkeit der Frucht verringert, so dass sich durch die seitliche Stellung des Schwerpunktes und der Flügelkonstruktion eine rotierende, schraubige Bewegung ergibt und die Wahrscheinlichkeit einer Fernverbreitung durch den Wind groß ist. Die Früchte werden als Schraubenflieger bezeichnet. Die Früchte sind exzentrisch gebaut, sie haben nur einen seitlich ansitzenden Flügel und eine verstärkte Rückenkante.
Die Keimlinge haben zwei schmale Keimblätter mit parallelen Rändern (Abbildung 8), die ersten Laubblätter, als Primärblätter (Abbildung 9) bezeichnet, zeigen beim Spitz- und Berg-Ahorn (Abbildungen 10 und 11) bereits die handförmig gespaltene Form.
Der Eschen-Ahorn (Acer negundo L.) gilt als Neophyt, er ist in Nordamerika beheimatet. Er wächst bei uns schnell zu einem großkronigen Baum mit weit ausladenden Ästen heran (Abbildung 12). Der Eschen-Ahorn ist zweihäusig, die Pollen aus den herabhängenden Staubblättern (Abbildung 13) werden vom Wind auf die Narben der weiblichen Blüten getragen. Nach der Befruchtung entwickeln sich die Früchte an einer herabhängenden Achse, sie sitzen zu zweit an einem Stiel (Abbildung 14). Nach längerer Flugbahn und Landung entwickeln sich Keimpflanzen, die zunächst denen der Ahornarten gleichen, dann aber ab dem dritten Blattpaar gefiederte Blätter bilden; auf diese Fiederblätter bezieht sich der deutsche Name Eschen-Ahorn (Abbildung 15).
Samen mit Flügeln bei Nacktsamern – Schraubenflieger
Im Unterschied zu den zuvor behandelten Arten, die alle zu den Laubbäumen gehören (Bedecktsamern) und Früchte bilden, gehören beispielsweise Kiefern-Arten (Gattung Pinus) und Fichten-Arten (Gattung Picea), zu den Nacktsamern.
Die Wald-Kiefer (Pinus sylvestris L.) wächst bei uns oftmals in Forsten und bildet dort dichte Bestände, sie entwickelt sich aber auch als Solitärbaum bevorzugt auf sandigen Böden und erreicht Höhen von 30 – 40 Metern. Im Alter zeigt sie schlanke Stämme mit einer typischen Krone (Abbildung 16). Sie bildet keine Früchte, die Samen entwickeln sich nackt in den Zapfen (Abbildung 17) an der Basis der Zapfenschuppen, die an einer Zapfenspindel stehen. Bei Reife und Trockenheit spreizen die Zapfenschuppen auseinander, meistens zu hören an einem Knistern. Die Samen haben an einem Ende den kleinen Samen, der sich in einem länglichen, sehr dünnen Flügel fortsetzt (Abbildung 18). Sie fliegen bei Trockenheit aus dem geöffneten Zapfen heraus, sind sehr leicht, haben wie die Ahornfrüchte eine leicht verstärkte Rückenkante und zeigen eine rotierende, schraubige Bewegung. Mit dieser Flugbewegung fliegen sie sehr weit, angegeben werden Flugweiten von 150 bis 1.000 Metern. Aus den Samen entwickeln sich zunächst Keimpflanzen mit zahlreichen Keimblättern (Polykotyledonie) und schließlich kleine junge Kiefernbäumchen (Abbildung 19).
Schraubendrehflieger
Die Gemeine Esche(Fraxinus excelsior L.), Familie der Ölbaumgewächse (Oleaceae) wächst in krautreichen Auwäldern, Schlucht- und Laubmischwäldern und bildet große stattliche Bäume (Abbildung 20) mit vielblütigen Blütenständen (Abbildung 21), die vom Wind bestäubt werden. Bereits im Mai hängen zahlreiche grüne Früchte dicht beieinander (Abbildung 23), die sich bis zum September braun färben und trocken werden (Abbildung 24). Bei ihren zweisamigen Früchten sitzt der Flügel an einer Seite der Frucht (Abbildung 25). Durch die Form des Flügels ergibt sich zusätzlich noch eine spiralige Flugbahn, wodurch das zu Bodensinken stark verlangsamt wird. Diese Früchte fliegen 25 Meter weit, bei starkem Wind können sie bis 500 Meter weit fliegen. Für die Ausbreitung ist auch die Verschleppung der Früchte durch Vögel und kleine Säugetiere von Bedeutung.
Der Tulpenbaum (Liriodendron tulipifera L.), Familie der Magnoliengewächse (Magnoliaceae), stammt aus Amerika, er wird bei uns vor allem in Parkanlagen angepflanzt. Er wächst als schlanker Baum (Abbildung 26) und kann bis 40 Meter hoch werden. Er erinnert mit seinen Laubblättern an die Blätter des Ahorns, allerdings „fehlt“ beim Tulpenbaumblatt die Spitze (Abbildung 27). Mit seinen tulpenförmigen, gelborange gefärbten Blüten ist er von besonderer Schönheit (Abbildung 28). Die zweisamigen Früchte stehen zunächst eng beieinander an einer aufrechten Achse und erinnern an die Zapfen der Nacktsamer (Abbildung 29). Bei der Reife lösen sich die Früchte von der Blütenachse (Abbildung 30) und werden als Schraubendrehflieger vom Wind verbreitet. Die elegante Flugbahn wird durch eine besondere Flügelform erreicht, zudem bewirkt sie, dass eine Flugweite von bis zu 500 Metern erreicht wird. Der Tulpenbaum ist mit seiner Laubfärbung im Herbst schön anzusehen (Abbildung 31).
Der Götterbaum (Ailanthus altissima (Mill.) Swingle), Familie der Bittereschengewächse (Simaroubaceae) stammt aus China. Er wurde in Europa, Amerika, Australien angepflanzt und hat sich mittlerweile weltweit verbreitet; er gilt als invasive Art. Der Götterbaum wächst sehr schnell, wird etwa 25 Meter hoch und bildet breite Kronen (Abbildung 32), mit großen Blütenständen (Abbildung 33), aus denen sich zahlreiche Früchte entwickeln. Bei den Früchten befinden sich die Samen in der Mitte (Abbildung 34), trotzdem fliegen sie durch gedrehte Flügelspitzen als Schraubendrehflieger (Abbildungen 35 und 36). Die Ausbreitung ist außerordentlich erfolgreich, zu erkennen an der Massenentwicklung von Jungpflanzen auf engstem Raum (Abbildung 37). In unseren Städten ist der Götterbaum stellenweise zu dichten Beständen herangewachsen.
Fazit
Viele unserer Bäume erreichen große Wuchshöhen, bis 30 Meter Höhe. Mit Früchten oder Samen mit Flügeln, werden sie mit Hilfe des Windes über weite Strecken verbreitet. Dabei ist die Stellung und Form der Flügel an der Frucht oder am Samen ganz unterschiedlich und demzufolge auch die Benennung der jeweiligen Fruchtform.
Die unterschiedlichen Flugbewegungen können Sie ganz leicht sehen, wenn Sie Früchte aus dem Fenster oder einfach in die Höhe werfen oder im Herbstwind die Flugbahn fliegender Früchte verfolgen. Dabei wird sehr deutlich, wie gut aufgrund der Konstruktion der Flügel dafür gesorgt ist, die „Sesshaftigkeit“ der Bäume aufzuheben. Die verschieden gestalteten Flügel sind in Kombination mit dem Wind als Transportmedium eine erstaunlich gut funktionierende Strategie zur Fernausbreitung verschiedener Baumarten.
Im Vergleich zu Arten mit schweren Früchten, die der Schwerkraft folgend herunterfallen, an der jeweiligen Stelle keimen oder mit Hilfe von Nagetieren verschleppt werden, können Früchte mit Flügeln über weitere Entfernungen, oftmals mehrere hundert Meter, verbreitet werden. Diese neuen Strukturen werden als Vorteil im Evolutionsgeschehen angesehen. ν
Literatur
DÜLL, R. & H. Kutzelnigg, 1994: Botanisch-ökologisches Exkursionstaschenbuch. Quelle & Meyer.
HECKER, U., 2023: Ausbreitungsbiologie der Höheren Pflanzen – Eine Darstellung auf morphologischer Grundlage. Springer Spektrum.
VAN DER PIJL, L., 1982: Principles of Dispersal in Higher Plants. Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York.
Autor: Dr. Isolde Hagemann | Greenkeepers Journal 1/25